Ein Stück, welches einen im Nachhinein wirklich noch einmal viel nachdenken lässt, da so viel noch zum Ende hin offenbleibt.
Juli Zehs „Corpus Delicti - Ein Prozess“ handelt von der Biologin Mia Holl, die in einem Überwachungsstaat lebt, der es sich zur Aufgabe macht, die Gesundheit seiner Bürger mit allen möglichen Mitteln zu wahren. Als Mias Bruder Moritz der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt wird und sich daraufhin das Leben nimmt, bricht für Mia eine Welt zusammen. Im Laufe des Romans entwickelt sie sich zur Märtyrerin, die sich gegen das System der „Methode“ stellt.
„Corpus Delicti“ lässt verschiedene Interpretationsansätze zu und nicht jeder deutet die Handlungselemente gleich. Vor allem die verschiedenen Ideologien bzw. Haltungen der Protagonisten sind auffällig. Oftmals wirkt es eher, als würden die Charaktere ihr Weltbild im Gesagten vertreten, als persönliche Sätze von sich zu geben. Genau dieser Aspekt erschwert es, die Charaktere auf der Bühne darzustellen. Daher hat es überrascht, wie gut die Schauspielerinnen und Schauspieler der Theater-AG diese Hürde bewältigt haben. Trotz des teils schwer zu verstehenden bzw. nachzuvollziehenden Textes wirkte das Gesprochene sehr authentisch, als würde man auch hinter dem Gesagten stehen. Das hat wirklich sehr beeindruckt.
Besonders gefallen hat und aufgefallen ist auch die Bühnenpräsenz einiger Schauspielerinnen und Schauspieler. Beispielsweise der Journalist Heinrich Kramer, der eine sehr charismatische und eindrucksvolle Figur mit viel Selbstbewusstsein ist, wurde auch genauso auf der Bühne verkörpert. Dasselbe gilt für seine „Gegenspielerin“ Mia Holl mit ihren ganz unterschiedlichen Gemütszuständen. Die besondere Beziehung zwischen den beiden wurde ebenfalls deutlich, ihre Dialoge waren stark und ausdrucksvoll – wie auch die zwischen Misa und ihrem Bruder Moritz bzw. zwischen Mia und ihrer Anwältin. Zum anderen war wirkungsvoll, dass Kramer dreifach und Mia doppelt besetzt und mit der Figur der Idealen Geliebten wirkungsvoll weiter differenziert wurde. Vor allem bei Mia wurde ihr innerer Zwiespalt dadurch sehr deutlich dargestellt und ihre verwirrende Gefühlswelt. Kramers Dreifach-Besetzung hat seine starke Figur und die teils einschüchternde Ausstrahlung nochmals verstärkt.
Dass auch jüngere Schülerinnen und Schüler mitspielten und dennoch den schweren Text so authentisch vortrugen, zeigt Talent und war sehr beeindruckend. Nur an wenigen Stellen hätte die Stimmung bzw. Haltung der Personen noch etwas mehr durch die Mimik der Schauspielerinnen und Schauspieler unterstützt werden können. Die Tonlage und der Ausdruck in der Körperhaltung hat stets zur Situation gepasst.
Was sehr beeindruckte, war die Raumnutzung der Inszenierung. Die Bühne wurde in vier Teile geteilt und auch in den Reihen, zwischen dem Publikum, wurde gespielt. Außerdem wurden viele inszenatorische Mittel genutzt, die die ganze Aufführung nochmals interessanter erscheinen ließen. Beispielsweise wurden einige Sätze Kramers von den drei Schauspielern synchron gesprochen oder einige Posen, wie am Ende, für längere Zeit gehalten, was tolle Bilder erzeugte. Aber auch Schlagwörter wie „Freiheit“ und „Risiko“ wurden auf Tafeln geschrieben und die ganze Vorstellung über dort als Denkanstoß belassen. Passend war ebenso die Wahl der Kostüme, welche bei allen eher schlicht gehalten wurde und zu den Rollen, aber auch zum System einer Gesundheitsdiktatur passten.
Überzeugend war die Inszenierung auch in ihrer Interpretation, dass der Prozess von Mia Holl eine moderne Hexenverfolgung darstellt. Die Zaunreiterin, die zwischen den Szenen auf der Grenze der Bühne zum „Abgrund“ balancierte, und dazu das Lied „Which Side Are You On“, welches die A-cappella-AG sang, erzeugten ein wirklich sehr schönes und tiefgründiges Bild. Im Allgemeinen waren die Lieder, die von der A-cappella-AG sehr schön und ausdrucksstark gesungen wurden, sehr passend gewählt und ihre Einbindung konnte die Wirkung und die Aussage des Stücks nochmals verdeutlichen.
Zum Schluss soll noch einmal das Ende der Inszenierung gelobt werden, welches meiner Meinung nach eine sehr starke Wirkung hatte. Mia Holl, die zusammengebrochen auf dem Boden liegt und ihr Scheitern realisiert, hat eine sehr ausdrucksstarke Atmosphäre geschaffen. Zudem war nur sie beleuchtet und der Hintergrund mit dem Gerichtspersonal dunkel. Kramer, der wie die Staatsanwältin und die Richterin langsam abgeht und Mia dort liegen lässt, verkörpert den Sieg der „Methode“ über die Märtyrerin – dazu der Song „Fragile“, der schließlich im Rücken des Publikums verklingt, von der A-cappella-AG, die damit Mia sozusagen auch verlässt.
Insgesamt regte die Aufführung zum Nachdenken an, indem sie die Tiefgründigkeit des Werkes und dessen Aussage überzeugend vermittelte.
Helena Tonger (J1)