Humanismus Heute 2011
„Werde, der du bist!“
Wie soll ich der Forderung des griechischen Dichters Pindar nachkommen? Ich bin doch immer ich. Nie jemand anderes. Wirklich? Ist der Mensch tatsächlich immer der, der er ist? Zeigt er sich ohne Maske, ist er jederzeit authentisch? Dies war die Fragestellung der Akademie der Stiftung „Humanismus heute“ im Kloster Neresheim, an der ich als Preisträger des Landeswettbewerbs Alte Sprachen teilnehmen durfte. Zusammen mit rund 30 anderen Jugendlichen bearbeitete ich u.a. Texte von Aristoteles, Diderot, Bacon, Kant und Heidegger.
Hypokrisie bedeutet bewusste oder unbewusste (Selbst-)Täuschung im Dienste des guten Rufs, der Einflusssicherung, etc. Die Ziele der Hypokrisie sind nicht durchweg böse und verachtenswert. So hörten wir den Vortrag eines Musikwissenschaftlers, der fragte, ob Musik authentisch sei: „Kann Musik lügen?“ Ist ein Musikstück, das komponiert wurde, um den Geschmack der Masse zu treffen und sich gut zu verkaufen, weniger authentisch, als eine Komposition, die aus der Gefühlslage oder einer politischen Begebenheit heraus entstand?
Können wir existieren, ohne uns von den Meinungen anderer beeinflussen zu lassen? Oder ist das ständige „Was denken die anderen von mir“ notwendiger Bestandteil der menschlichen Existenz? Dem Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein nach ist es dem Menschen beispielsweise nicht möglich, eine Sprache zu entwickeln, ohne Andere zu haben, die diese verifizieren. Also sind wir auf Andere angewiesen.
Doch wie weit geht dieses „Angewiesensein“ und inwieweit behindert es die Forderung Pindars?
Wenn wir uns Wissen aneignen, eignen wir es uns nur um unserer selbst willen an, oder um andere mit unseren Kenntnissen und Fähigkeiten zu beeindrucken? Interessiert mich dieser ZEIT-Artikel wirklich, oder lese ich ihn, um mit der ZEIT als Symbol des Intellektuellen im Café sitzen zu können? Jeder wählt sich durch seine Sprache, Kleidung, etc. auch seine Zuhörer. Indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: Sie halten zugleich Ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den Eingang“, während sie denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind.
Warum schreibe ich diesen Artikel? Schreibe ich ihn aus dem Bedürfnis heraus, von meinen tollen Erfahrungen im Kloster Neresheim zu berichten, oder um meinen Namen in der Jahresschrift zu lesen?
„Wer über die Verachtung des Ruhmes Bücher schreibt, setzt trotzdem seinen Namen auf das Titelblatt.“
Die Frage, wie sehr man authentisch ist und sein möchte, sich selbst gegenüber und anderen, muss jeder selbst entscheiden. Der Forderung Pindars nachzukommen stellt sicherlich eine Lebensaufgabe dar
Lucas Danco